GESANG IST DIE WISSENSCHAFT DER SEELE

Unsere Mütter waren davon überzeugt, dass wir beste Freunde werden können. Nils und ich kennen uns seit der Geburt, saßen jedoch erst nach 24 Jahren wirklich zusammen an einem Tisch. Hier durfte ich so einiges über den Countertenor erfahren, der gerade in London lebt und studiert. Sein Leben ist anders und regt zum Umdenken an. 

Ein junger Mann, der sich für Vivaldi interessiert, klassische Stücke singt und am liebsten als Opernsänger auf der Bühne steht, weckt natürlich unser Interesse. Denn wir Menschen sind Gewohnheitstiere und orientieren uns an gewöhnlichen Lebensmodellen. Wenn wir plötzlich einer Person begegnen, die aus diesem regulären Konstrukt ausbricht, überschlagen sich die Fragen in unserem Kopf. 

Doch können wir einen Menschen mit unseren Fragen einfach so überrumpeln, klingt es nicht eher nach einem “in Frage stellen” statt nach “eine Frage stellen”? Eigentlich nicht, denn wer mit seiner Persönlichkeit und seinem Talent polarisiert, ist auch bereit, die Menschen hinter die Kulissen mitzunehmen. Nils hat mich in London mit hinter die Kulisse genommen und ich möchte mit euch teilen, was ich über ihn erfahren, und von ihm lernen, durfte. 

“Auf der Bühne schlüpfe ich in eine andere Rolle. Ich trete aus Nils Wanderer raus und kann wirklich jede Persönlichkeit annehmen und vor allem fühlen. Die Stimme und das Schauspiel ist stark von Emotionen getrieben, aber man kann den Gesang auch als eine Wissenschaft für die Seele verstehen. Man muss das ´Handwerk´ auf jeden Fall beherrschen, um eine Oper durchzustehen. Sobald ich die Bühne dann verlasse, bin ich wieder komplett Nils. Immer noch ehrgeizig und voller Power, aber dieses Adrenalin auf der Bühne ist ein einzigartiges Gefühl und gibt mir dort oben ein ganz besonderes Gefühl.” 

Nils Wanderer ist Countertenor, dies bezeichnet einen männlichen Sänger, der die Alt- oder sogar Sopranlage singen kann. Einfach ausgedrückt, ein Countertenor kommt mit den Tönen beim Singen sehr hoch. Dies ist man eigentlich von Frauen gewohnt und diese Stimmlage ist bei männlichen Sängern auch nicht stark verbreitet. Die Stimme ist also sein Kapital und dies setzt den Sänger natürlich auch unter Druck. Achtsamkeit und Gesundheit haben höchste Priorität und auf Alkohol wird komplett verzichtet. Für Nils ist es wichtig, Disziplin zu beweisen, denn die Passion zum Beruf zu machen ist – auch mit Talent – harte Arbeit. 

“Als Künstler stellt man sich regelmäßig der Kritik des Publikums und auch der Kritik der Dirigenten. Die Arbeit mit den Gesangsprofessoren ist intensiv, aber auch hier wird man oft mit andern Künstlern verglichen. Das gehört dazu, man darf sich davon nicht entmutigen lassen, im Gegenteil, ich sehe es als Ansporn, über mich hinaus zu wachsen! Als Countertenor möchte ich die beste Version meines Selbst sein, als Nils kann ich privat auch Zweifel, Lampenfieber und Unsicherheit zulassen – solange ich den Schalter auf Knopfdruck umlege!”

Seine herausforderndste Rolle war die einer Puffmutter/ Dragqueen. Eine Dragqueen ist ein Mann, der sich künstlerisch durch Aussehen und Verhalten als Frau inszeniert. Viel Make-Up, übertriebene Gestik und Mimik und eben die Darstellung einer Frau, aber die Empfindung eines Mannes

Nils selbst ist schwul und lebt das auch, ihm ist ein selbstverständlicher und offener Umgang damit wichtig. Denn so sehr er es liebt, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen, möchte er auch als Nils wahr- und ernstgenommen werden. Hier hatte er bei einem Auftritt ein Schlüsselerlebnis. Eine Vorstellung kitzelt die tiefsten Emotionen aus einem Künstler heraus und so erkannte Nils einst, dass er sich gerade in einer ungesunden Beziehung befand. Eine Beziehung, die ihm Energie raubte, statt sein Talent zu unterstützen. Also griff er, noch in der Pause, entschlossen zum Hörer und beendete das Verhältnis.

“Natürlich hat das Leben als Sänger Seiten des Lichts und Seiten des Schattens, aber auf diesem Weg, darf man eben das Ziel vor Augen nicht verlieren. Ich habe echt schon viel erreicht und es kommt noch so viel mehr, Ich möchte mein Potential komplett ausschöpfen und dafür brauche ich Menschen um mich herum, die mir gut tun. Auch mein treues Publikum kann ich mich verlassen, auch meine Freunde und vor allem meine Familie unterstützen mich jeden Tag. Das ist so viel wert!” 

Durch das Studium in London optimiert Nils sein Gesang, lernt dazu und fühlt sich in dieser großen Stadt mit ihren vielen Charakteren sehr wohl und aufgehoben. 

Ich könnte Euch noch mehr erzählen, aber möchte nun kurz und knapp aufzählen, was ich aus der Begegnung mit Nils mitgenommen habe. Vielleicht gibt es ja einen Teil 2, wenn Ihr Lust darauf habt. 

  • Ein Talent ist ein Geschenk. 
  • Aus einem Talent einen Beruf zu machen, ist harte Arbeit. 
  • Gut in seine Beruf zu sein heißt, an Kritik zu wachsen. 
  • Selbstbewusst auftreten, bedeutet sich und sein Handeln immer wieder zu reflektieren. 
  • Gewisse Zweifel und Ängste begleiten auch die größten Begabungen. 

“Zweifel sind jedoch auch ein Motor, um immer weiter zu gehen und finden sich bei jedem Künstler! Sobald man sich zurücklehnt, hört der Entwicklungsprozess auf”, sagt Nils und freut sich auf alles, was noch kommt. 

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2 Kommentare

  1. Tamina
    01/03/2019 / 22:32

    Wow, vielen Dank für diesen Einblick in das Leben dieses jungen Künstlers. Habe mir Nils gleich mal angehört und bin ergriffen bei dieser Stimme. Sie erreicht mein Herz.
    Ich freue mich schon darauf, mehr von ihm zu erfahren.
    Ein sehr schöner Artikel von dir.?

    • Kim
      Autor
      04/03/2019 / 11:33

      Liebe Tamina,

      vielen Dank für deinen wundervollen Kommentar und die lieben Worte – es freut uns natürlich beide, dass das Interview so gut bei dir ankommt.

      Ganz liebe Grüße
      Kim xx

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